Die alte Villa am See
Krimi am Wörthersee I
Prolog
„Pah! Was für eine abgefahrene Story!“ Tonja Stein dreht den Kopf halb zu ihrem Fahrgast nach hinten.
„Ja. Der Film ist echt der Hammer! Aber ich bitte Sie inständig, schauen Sie nach vorne auf die Straße, ich möchte heute wirklich noch mit dem Flieger nach Bangkok und nicht mit dem Heli ins Krankenhaus,“ jammert der Fahrgast im Fond von Tonjas Taxi.
„Ist ja gut, ist ja gut. Keine Panik. Ich kenn die Strecke wie meine Westentasche. Da passiert schon nichts! Außerdem hab ich heute schon eine Elster gegrüßt. Das bringt Glück. Es kann uns nichts passieren.“
„Kein halbwegs modebewusster Mensch trägt heute mehr eine Weste! Und wer Elstern grüßt, scheint mir auch nicht ganz vertrauenswürdig“, tönt es alarmiert von hinten.
„Ha! Das mit der Weste ist wohl wahr. Aber so eine Geschichte müsste einem einmal einfallen,“ schwärmt Tonja weiter von dem gerade besprochenen Film. Und dann müsste man alles aufschreiben, einem Verlag schicken und reich werden. So wie die Erfinderin von Harry Potter. Das wär´s!
„Wieso bringt es Glück, wenn man eine Elster grüßt?“ will der ängstliche Fahrgast wissen.
„Ach, ein alter englischer Aberglaube! Meine Oma kam aus Great Britain, müssen Sie wissen. Die hat mir den einen oder anderen Spleen vererbt. Vor allem den Glauben an den Aberglauben! Man muss die elster nicht nur grüßen, sondern auch nach dem Wohlbefinden des Partners fragen. Erst dann hat man für den Rest des Tages Anspruch auf Glück. Und: Man wird auch nicht von ihr beklaut. Aber das ist nur eine Nebenwirkung. Wichtig ist ja, dass man Glück hat!“
„Ach?“
Tonjas ruppige Fahrweise treibt ihrem Kunden Schweiß auf die Stirn und überhaupt einen grünstichigen Teint ins Gesicht. Aber Tonja ist in Fahrt, buchstäblich. Und sie hat sich geschworen, dass sie zur Glücksritterin wird. Denn sie hat einen Traum: Sie will Krimiautorin werden. Nachfolgerin von Georges Simenon, Agatha Christie. Edgar Wallace. Nur eben auf Höhe der Zeit.
Und, sie hat auch schon eine Idee, wie sie zu ihrem Stoff kommt. Ben Groß muss helfen, Kriminalgruppeninspektor in der gerade zur Großstadt avancierten Metropole des Südens, Klagenfurt am Wörthersee. Er ist Tonjas Schwager, womöglich sogar bald Ex-Schwager, aber daran will sie im Moment nicht denken - der Bruder ihres über alles geliebten Mario.
Über alles geliebt von ihr, Tonja Stein, die zurzeit auf wenig Gegenliebe beim Herrn Schuldirektor stößt. Mario meint plötzlich sie seien zu verschieden. In und aus völlig verschiedenen Welten und auch nicht auf einer irgendwie zusammenführenden Zielstrecke.
Gut, Mario möchte endlich Kinder. Das war eigentlich vorauszusehen, denn er wäre nicht Lehrer geworden, wenn er nicht Kinder lieben würde. Tonjas Wunsch dahingehend ist nicht bei null sondern sogar bei mindestens minus fünfzehn Prozent angesiedelt. Mario hat den ganzen lieben langen Tag Kinder um sich. Das muss doch reichen. Sie versteht nicht, wie er sich da auch zuhause noch diesem lärmenden und aufsässigen Volk aussetzen will. Ja, selbstverständlich sind Kinder toll. Kurz. Eine Besuchslänge lang. Na ja.
Aber dieser Punkt ist der einzige, der nicht ganz kompatibel ist, meint Tonja.
„Stopp. Hier! Hier müssen Sie rechts abbiegen“, tönt eine aufgebrachte Stimme von hinten.
„Aber ja. Immer mit der Ruhe. Spur wechseln, zum Flughafen abbiegen. Kein Problem“, lächelt Tonja in den Rückspiegel.
„Passen Sie auf! Eine Katze!“
Tonja steigt in die Bremsen und hält mit quietschenden Reifen. Seelenruhig queert eine dunkelgraue Katze die Straße. Tonja steigt aus und will die Katze zurücktragen.
„So du Unglückstier. Du gehst jetzt schön zurück auf die andere Straßenseite und hörst mit dem Unsinn auf. Ein Glück, dass du grau bist und nicht schwarz.“
„Sie glauben daran, dass es negative Folgen haben könnte, wenn eine schwarze Katze von links kommend über die Straße stolziert?“
Den Herrn auf der Rückbank hat sie total vergessen.
„Die Katze kann überhaupt kein Unglück bringen. Sie ist nur grau, nicht schwarz!“
„Aber doch näher bei Schwarz als bei Grau, finden Sie nicht?“ taut der Fahrgast zur Gesprächsform auf.
Egal. Sie ist ihn ja auch gleich wieder los. Zum Zeichen, dass sie nicht weiter diskutieren will, zieht sie beide Schultern nach oben und macht ein fragendes Gesicht.
Der Fahrgast steigt wieder ein, klopft ungeduldig mit der flachen Hand aus dem Fenster auf das Autodach. Tonja klemmt sich wieder hinters Lenkrad. Als Gegensatz zum nervenden Fahrgast denkt sie an ihren Ehemann.
Ach, Mario!
Sie gibt Gas.
Sie hat eine fast schlaflose Nacht im Taxi verbracht. Ihr geliebter Angetrauter hat sie am Abend einfach nicht in ihr gemeinsames Haus gelassen. Hat ihr nur durch die geschlossene Haustür zu verstehen gegeben, dass ihr Verhalten auf der Party - Bens Geburtstag - nicht in Ordnung gewesen war. Blöderweise kann sie sich nicht erinnern, was da nach dem Anschneiden der doppelstöckigen Torte alles passiert ist.
Filmriss.
Sie hat keine Ahnung warum Mario derart böse auf sie ist.
„Rechts! Sie müssen hier rechts abbiegen. Verdammt, haben Sie den Taxischein geklaut, oder was“, schimpfend kramt der Fahrgast in seiner Brieftasche und wirft ihr zwei zwanzig Euroscheine über die Schulter in den Schoß.
„Trinkgeld gibt es sicher keines“, schimpft er weiter und verlässt das Taxi, kaum dass es vor dem Flughafenportal zum Stehen kommt.
„Na, dann lieber kein Wiedersehen“, ruft ihm Tonja gutmütig nach und träumt schon wieder von ihrer Karriere als angehende Schriftstellerin, indem sie überlegt, dass sie diese Szene in ihren Krimi einbauen wird.
Das mit Mario wird sich einrenken, jetzt muss sie sich erst einmal ihren Story-Input sichern. Sie sucht in ihrem Smartphone nach dem Kontakt zu Benjamin.
Er hasst es, bei seinem vollen Namen gerufen zu werden: Benjamin Groß. Bei seiner eins neunzig Körpergröße ist Benjamin, in der Namensbedeutung „der Kleine“, auch wirklich unpassend. Lustig eigentlich, dass die Abkürzung „Ben“ dann aber doch Größe und Stärke im Wortklang vermittelt.
„Ah. Gut, dass ich dich gleich erreiche! Liebster Ben! Ich hoffe, ich stör dich nicht. Oder besser doch, denn dann kann ich dir wieder einmal meine Hilfe anbieten“, versucht Tonja einen möglichst glatten Gesprächsstart hinzulegen.
„Deine Hilfe? Liebe Schwägerin, hast du keine Fahrgäste mehr, oder wie?“
Er klingt entspannt, sie stört also nicht.
Tonja unterbreitet ihm ihr Anliegen, dass sie gerne wieder einmal bei einer Ermittlung dabei sein möchte. Diesmal nicht nur zum spannenden Zeitvertreib, sondern um sich in einen konkreten Fall einzufühlen, vielleicht sogar zu recherchieren und Material für einen tollen Kriminalroman zu sammeln. Ben hört aufmerksam zu, streut hin und wieder ein interessiertes „hm“ und „mhm“ dazwischen.
Völlig unerwartet stimmt er tatsächlich zu. Tonja soll ihn chauffieren. Dann wäre er dieses leidige Dienstwagenproblem endlich los. Immer ist er zu spät dran und alle Dienstfahrzeuge sind bereits vergeben und unterwegs. Er schafft es einfach nicht vor neun ins Kommissariat. Die Spesen müssten allerdings auf Tonjas Kappe gehen, die kann er nicht bezahlen. Aber dafür darf sie assistieren. Inoffiziell selbstverständlich. Und die Fakten darf sie natürlich nicht eins zu eins für einen Krimi verwenden, dass das klar ist!
„Kein Problem, die handelnden Personen haben selbstverständlich keinerlei Ähnlichkeit mit den Verdächtigen und Zeugen in der realen Ermittlung, versprochen!“
Tonja kann ihr Glück kaum fassen und freut sich auf ihren ersten Einsatz. „Danke, Herr Elster und Frau Gemahlin. Ich hoffe, wir treffen uns morgen gleich wieder!“
1- Schwimmen
Fünf Uhr. Montagmorgen. Tom freut sich auf den Sprung ins kühle Nass des Wörthersees. Täglich fährt er mit seinem Fat-Bike die fünf Kilometer von seiner Wohnung zum See. Er genießt die Fahrt, rechts die schönen alten Villen, links den Lendkanal hinter sich lassend, um dann, Wasser und Strand ganz für sich habend, mindestens dreißig Minuten Richtung Seemitte zu schwimmen und gemütlich retour. Genussroutine, sozusagen.
„Guten Morgen“, tönt es Tom freundlich von der Seite entgegen. Nathalie Huber radelt fröhlich strampelnd und ein wenig atemlos an seiner Seite.
„Einen Guten“, erwidert Tom und schaut auf die Breitling Superocean.
Seltsam, die Frau ist doch sonst nicht so früh dran, denkt er kurz ärgerlich. Er will sich eigentlich noch nicht unterhalten. Er will seine Ruhe. Alleine sein.
Nathalie ist berühmt berüchtigt dafür, dass sie alle Menschen, die sie ins Herz geschlossen hat, mit Obstsalat versorgt. Und es ist eine Unmöglichkeit ihr zu entrinnen. Da hilft keine Apfelunverträglichkeit, keine Joghurtaversion, keine Laktoseintoleranz, kein Ausschlag und auch nicht der direkte Hinweis, dass einem von Obstsalat das Grausen kommt. Sie stemmt dann üblicherweise die Hände in die Hüften und schaut ihrem Gegenüber so lange mit einem ganz eigenen Ausdruck in die Augen, bis man aufgibt. Und den Obstsalat irgendwie hinunterwürgt. Oder eine Ausrede findet um damit um irgendeine nahe gelegene Ecke zu biegen um selbigen verschwinden zu lassen – wohin auch immer. Tom hat ihn in seiner Not sogar einmal vergraben. Ohne der steinharten und sauren Kiwis wäre er ja vielleicht noch genießbar gewesen, denkt er und schüttelt sich innerlich.
Tom schmunzelt bei dem Gedanken an seine Mutter, die im Gegenzug Nathalie einmal dazu zwingen wollte, ihre selbst gemachten Grillwürste zu essen. Dazu muss man wissen: Nathalie ist Veganerin. Fast militant. Obstsalat gegen Würstchen war die Devise. Das hat gesessen. Seitdem ist Nathalie ein wenig milder geworden und die Familie Kofler muss keinen Obstsalat mehr essen, wenn sie ablehnt.
„Heute hab ich kein Obst dabei“, klärt Nathalie auch gleich auf. Heute hab ich Katzenfutter mit.
„Katzenfutter?“
„Ja. Hast du diese schöne Schildpattkatze noch nicht gesehen? Seit Tagen streunt sie bei uns um die Badehäuser. Ich hab mir gedacht, ich bring ihr einmal etwas Feines mit.“
„Warum nicht Obstsalat?“
„Scherzbold! Ich dachte, du redest in der Früh nicht so gern?“
Tom nickt unglücklich.
„Keine Angst, ich lass dich schon in Ruhe,“ verspricht Nathalie.
Das nimmt Tom als Aufforderung dafür, dass er einen Zahn zulegen darf ohne unhöflich zu sein.
Er lässt seinen eigenen Gedanken wieder freien Lauf. Heute ist ein ganz besonderer Tag! Heute wird er in sein neues Zuhause ziehen. Südufer, Waldrand, Blick auf den See, eigener Seezugang. Ein Traum wird wahr. Seit er als Kind bei einem Freund in dessen elterlichen Sommerdomizil in Velden zu Gast war wünscht er sich dieses Gefühl zurück: dieses Gefühl das sich einstellt, wenn man direkt aus dem Bett, barfuß über die Wiese zum Seeufer läuft und in das saubere, türkisblaue Wasser des Wörthersees eintaucht.
Zugegeben, sein neues Haus, das in Wahrheit eine ziemlich desolate alte Seevilla ist, braucht ziemlich viel handwerkliche Zuwendung. Aber er wird sich mit einigen Kunstgriffen ein Paradies schaffen. Ein Atelier im Obergeschoß und unten alles was das Leben gemütlich macht. Küche, Kachelofen, Couch. Endlich wird er wieder Wurzeln schlagen. Die Arbeiten am Haus werden ihm dabei helfen die Niederschläge der vergangenen Monate vergessen zu lassen. Er wird wieder leben!
Kein sich beweisen müssen.
Kein Machtkampf mit Marc.
Endlich Tom sein. 24 Stunden am Tag. Oder vielleicht auch nur 13 Stunden am Tag. Hin und wieder muss man sich wahrscheinlich doch auch dem einen oder anderen Meeting stellen.
Er will einfach in Ruhe arbeiten. Am Haus. An Texten. Weiter nichts.
Er hat all diese Intrigen und Spielchen so satt. Aber: Wie es aussieht, hat er es geschafft. In 12 Stunden wird sich sein Leben radikal verändern.
2 - Neid
Tom stellt sein Rad in die erste der zwanzig Reihen Fahrradständer vor dem Klagenfurter Strandbad und geht schwungvollen Schrittes zum Badehäuschen seiner Familie. Kaum hat er seinen Badeausweis an der Kasse gezückt und auch wieder eingesteckt, öffnet er die Gürtelschnalle in Vorfreude auf das kühle Nass in Trinkwasserqualität.
Sein Blick fällt auf das Badehäuschen neben dem seiner Familie. Meine Güte, was ist denn heute los? Jetzt ist der Franz Fadinger auch schon da! Wie früh soll ich denn noch herkommen, bemerkt er ärgerlich, weil er seinen geliebten See nicht für sich alleine hat. Reg dich nicht auf, denk an heute Abend, versucht er sich selbst zu beruhigen.
„Guten Morgen Herr Fadinger“, grüßt er laut hinüber und muss grinsen, weil der Gegengruß kaum mehr als ein unverständliches „Gmrgrbl“ ist.
Sie kennen sich seit der Kindheit. Sich lange zu kennen, heißt aber nicht, dass man sich mag. Tom und Franz sind das beste Bespiel dafür. Mittlerweile ist es schon zum Sport geworden, den Nachbarn ein bisschen zu ärgern. Tom verzichtet auf die vertrauliche Anrede mit Vornamen. Er weiß nicht warum, aber den Franz Fadinger ist es nicht recht. Umso lieber und öfter spricht Tom ihn mit Nachnamen und ganz förmlich an. Die Rollen sind eben großteils so verteilt, dass Tom sich über Franz lustig macht. Und weil er deshalb ein ganz, ganz kleines bisschen von schlechtem Gewissen geplagt wird, ist Tom übertrieben höflich zum Franz. Was diesen zur Weißglut treiben würde, hätte er ein bisschen mehr Feuer unterm Arsch, oder in den Adern. Oder sonstwo. Jedenfalls merkt ihm seinen Ärger nur an, wer ihn kennt. Tom grinst diebisch schadenfroh in sich hinein.
Franz Fadinger winkt nicht gerade freundlich mit einer Farbrolle, von der die himmelblaue Farbe in die frühsommerlich grüne Wiese tropft. Es ist eine klassische Situation, wenn sich der Fadinger Franz ärgert, geht das darüber hinaus meist auch noch mit peinlichen Missgeschicken einher.
Ja, der lange Franz kann Tom nicht leiden. Früher wegen der ausgespannten Mädels, später wegen der erfolgreicheren Berufslaufbahn und heute, weil sich Tom erdreistet hat, sich Fadingers kleine alte Seevilla anzueignen, deren beste Zeiten allerdings weit im letzten Jahrhundert liegen müssen.
Tja. Der eine hat Glück und der andere weniger. Ein bisschen Schicksal, ein wenig Anlage, denkt Tom und tastet nach dem Schlüssel für die Tür des Badehäuschens, der für alle Familienmitglieder zugänglich auf dem Balken unter der Regenrinne liegt. Zugänglich ist der Schlüssel an diesem Ort natürlich auch für alle anderen Menschen. Nur, wer sollte sich schon groß für den Inhalt einer kleinen Badehütte Reihe 5 interessieren? Für Sonnenöl, Badetücher und zerlesene Taschenbücher? Jedenfalls tastet Tom nach dem Schlüssel, aber da ist nichts. Er greift weiter nach hinten, nichts. Er streckt sich zu voller Körperlänge und erwischt tatsächlich den Bart des altertümlichen Türöffners.
Na, also. Kurz wundert er sich, wer in der Familie so groß ist, dass er den Schlüssel so weit nach hinten legen kann, kommt aber auf keinen grünen Zweig.
Ist ja auch nicht so wichtig, schließt er den Gedanken ab.
Er sperrt auf, geht blindlings zwei Schritte in den kleinen dunklen Raum, der vertraut nach Tiroler Nussöl und altem verwittertem Holz riecht. Er atmet tief ein und erinnert sich an Kindheitstage.
Erste Liebesabenteuer in der Hütte. Wohl wissend, dass der Franz von nebenan versucht durch das kleine Fenster auf der Rückseite der Hütte herein zu spechteln. Das war auch gleich eine willkommene Gelegenheit sich den Mädels gegenüber als edlen Ritter zu inszenieren, der schimpfend und drohend hinausläuft, um den elenden Voyeur zu verjagen. Dem solchermaßen Enttarnten war das natürlich ultrapeinlich, denn alle Badegäste in der Umgebung hatten mitbekommen, womit er gerade versucht hatte sich seine Zeit zu vertreiben.
Ha, auch schon mehr als zehn Jahre her, erinnert sich Tom schmunzelnd.
Was hat seine Mutter vor der Frau Fadinger immer mit Toms waghalsigen Abenteuern angegeben! Lustig eigentlich. Denn mit ihm hat sie geschimpft, als sie von seinen ersten Versuchen als „urban jumper“ erfuhr, aber der Badehäuschen-Nachbarin hat sie es so erzählt, als wäre es eine sportliche Hochleistung mit Medaillenbelobigung gewesen. Erfahren hat sie es, weil er von der Polizei im Streifenwagen zuhause abgeliefert worden war. Er wusste damals nicht, ob er es amüsant oder peinlich finden sollte. Die Überlegungen wurden sowieso von einer saftigen Ohrfeige jäh unterbrochen und so ging das Match unentschieden aus. Es gab einen ganzen Monat Hausarrest, den er natürlich findig durch die Dachluke und die Regenrinne zu umgehen wusste.
Jedenfalls hat Tom nicht nur einmal gehört, wie die Frau Fadinger dann ihrem Franz den Ratschlag hat angedeihen lassen, sich doch ein Vorbild an Tom zu nehmen.
Dabei war er und das was er so alles anstellte beileibe nicht dazu angetan auch nur irgend jemandes Vorbild zu sein. Er hat nur immer getan, was ihm gerade in den Sinn gekommen war. Manchmal hatte es zumindest keine negativen Folgen und manchmal hat es sogar ganz gut geklappt. So in der Manier „Frechheit siegt“. Aber aus der Sicht eines halbwegs erwachsenen Menschen sieht ein geplanter Karriereweg ganz anders aus.
Zum Beispiel hat er in den letzten Sommerferien vor der Matura bei Marc Miller, dem angesagtesten Werbefachmann der Stadt angeheuert.
Er hat an diesem Tag die Schule geschwänzt, war wie an solchen Tagen üblich, im Café Perstinger am Heiligengeistplatz gesessen und hat ein Magazin durchgeblättert - in Ermangelung eines Schulschwänzerkollegen mit dem er sich hätte philosophischen Fragen zu Verschwörungstheorien und Weltuntergangsschmerzen hingeben können.
Plötzlich zog ihn eine ganzseitige Anzeige magisch an. Was war das denn? Eine schwarze Seite mit dem Wort „Klapate“ in weißen Lettern. Sonst nichts. Doch! Ganz klein stand vertikal am rechten Rand „Marc Miller Agency“. Es faszinierte ihn, dass er trotz der scheinbar diffusen Buchstabenanordnung sofort das richtige Wort darin sah: „Plakate“. Und in genau diesem Augenblick wusste er es: da will er arbeiten. Das will er auch können. Das muss er lernen! Damit Geld machen. Das wär´s! Also googelte er Marc Miller, merkte sich die Adresse, zahlte seinen Energydrink und machte sich auf den Weg.
Von nichts eine Ahnung, aber eine große Klappe. Das hat dem Agenturchef gleich imponiert. Logisch. Schaumschlägerei gehört in der Werbung ja schließlich zum Jobprofil. Aber das wusste Tom damals noch nicht.
Jedenfalls hat er den Job als Junior-Texter bekommen und ist bis heute geblieben. Es war nicht immer ganz leicht, aber anfangs stand Marc als Mentor stark hinter ihm.
Und prompt war Franz neidisch. Er hat sich durch ein ganzes Studium geplagt, ist heute Master of wer weiß das schon so genau und sitzt seit immer schon ohne Job am Strand neben seiner Mama im kleineren Badehäuschen als die vermaledeiten Nachbarn, während der Sohn dieser Nachbarn bei Marc Miller sogar Teilhaber wurde.
Aber das ist eine andere Geschichte. Eine Geschichte, die bald zu Ende geschrieben sein wird. Hoffentlich, denkt Tom.
Ist er hier einmal weg, wird er sicher nie wieder auch nur einen Gedanken an den von sinnlosem Neid zerfressenen Franz verschwenden.
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